Auszug aus "Für euch, die ihr träumt"
Vor Jahren hatte Cecilie sie aus Berlin angerufen, enthusiastisch erzählte sie von dem Auftrag, eine Reportage über die Roma in Kasachstan zu schreiben. Cecilie arbeitete damals für eine Reisezeitschrift, sie wechselte Berufe und Männer wie ihre Strickkleider. Marilena müsse unbedingt mitkommen und fotografieren. Es wäre einsam dort, viel Natur, Marilena würde es mögen. Erst sträubte sich Marilena, sie hatte sich erst von einer langwierigen Grippe erholt. Was sollte sie da? Ihre Zeit im Wald lag noch nicht lange zurück. Der Therapeut hatte gesagt, sozialer Rückzug sei keine Lösung. Alles war ihr zu unsicher. Sie sah Cecilie, wie sie auf dem Jahrmarkt in Astana oder Almaty einen jungen Roma kennenlernte, wie sie seinen schwarzen Augen in die Steppen hinausfolgte, es gab kein Zurück, sie würde Wochen, Monate, Jahre, so genau wusste man das bei Cecilie nie, mit ihm in einer Siedlung wohnen und Marilena würde Wochen, Monate, Jahre auf dem Markt in Astana oder Almaty auf die Rückkehr der verlorenen Schwester warten und dabei husten.
Es kam anders. Cecilie verliebte sich ausnahmsweise nicht. Die Tage und Abende in der Steppe blieben unvergesslich. Die Weite des Graslandes und die unsicheren Winde. Die Härte der Lebensbedingungen eingekerbt in den Gesichtern. All das gelang Marilena in ihren Fotografien festzuhalten.
Marilenas Blick durchs Objektiv wurde nüchterner. Es gibt kein Glück auf Erden, doch Ruhe gibt es und Freiheit, heißt es in einem Gedicht von Puschkin.
Marilena fand etwas in den Augen der Romafrauen. Lange vermochte sie nicht zu entschlüsseln, was dieses Etwas war. Später begriff sie, die schwarzen Augen erzählten von Trauer und Wildheit. Eine Trauer, die Marilena trieb. Eine Wildheit, der sie in ihren Träumen nachspürte.
Marilena sitzt im Studio vor dem Laptop. Sie klickt auf Kasachstan. 2001. In den Weiten der Steppen. Digital archiviertes Fotomaterial. Das Ordnen nach Ländern, Jahreszahlen, Titeln und Stichworten hatte ihr Onkel Wendelin beigebracht. „Ordnung ist das halbe Leben”, sagte er. Was die andere Hälfte sein könnte, behielt er für sich.
Marilena gab den Fotografien Kontraste, Schärfe, veränderte Belichtungen, Farbtöne, Sättigung, verwandelte in Sepia oder Schwarzweiß.
Die besten Schnappschüsse versetzte Marilena mit einem Stern und legte vergrößerte Abzüge in einer Mappe ab. Sie sucht im Rollschrank danach, fächert die Abzüge vor sich über den Holzdielen auf.
Verflossene Geschichten aus dem Romalager.
Cikni, der Junge mit den Segelohren, der Tauben züchtete, ihnen geheime Sätze und Zauberformeln einflüsterte und sie in den Himmel aufflattern ließ. Seine Baskenmütze saß schief auf dem Kopf und er achtete darauf, dass sie ihm nicht davonflog, seine Segelohren halfen dabei. Denn eine abgefallene Mütze hätte den Absturz einer Taube und das ein Unglück bedeutet. Romas waren abergläubisch.
Marilena fühlt den Wind, riecht die erdige Kühle beim Betrachten der Fotografien.
Der Papan mit einer Gorillamaske über den Schädel gestülpt und diesen lächerlichen Gummistiefeln an den Füßen. Nie richtete er das Wort an Marilena, nie nahm er die Maske ab. Die dauernde Anwesenheit des Papans, des Dümmlings, wie ihn alle nannten, war ihr von Tag zu Tag unheimlicher geworden. Erst später, zuhause, als die Ablichtungen wieder und wieder durch ihre Hände glitten, begann sie den eigenartigen Kauz zu mögen, vermutete Verletztheit hinter der Maske.
Männer mit Wasserpfeifen auf Schaumgummi oder Brettern auf dem Feld hockend, in ihrer Mitte Gefäße voller Beschbarmak. Frauen trugen Wasserkanister vom Hügel herunter, die schwermütige Musik eines Akkordeonspielers in ihren Haaren und Tüchern.
Was hatte sie mit den Romas gemein?
Schnee. Schmutz. Falsche Brautkleider. Und ein nacktes Kind zwischen Erdklumpen.
Wären da nicht die toten Vögel gewesen, hätte sich Marilena wohl gefühlt. Täglich fand sie ein Dutzend um ihr Zelt verstreut, auf der Erde oder unter verfaultem Gras. Schwalben, Steppenkiebitze und solche, die sie nicht kannte. Manche waren geköpft, andere zermalmt oder zerquetscht. Die Schwestern fanden nicht heraus, wer ihnen die Vögel vor das Zelt gelegt hatte. Cecilie vermutete den Papan mit der Tiermaske als möglichen Täter.
An jedem neuen Morgen sammelten die Kinder die blutigen Federn und Knochen rund um Marilenas Zelt ein. Sie steckten sie in die Taschen ihrer Schürzen und Hosen. Mit angeschwärzten Zähnen und Geheul machten sie sich davon, hinaus auf den Friedhof, wo sie auf den Gräbern ihrer Ahnen spielten.
Unter keinen Umständen würde sie Leo in dieser Verwahrlosung aufwachsen lassen. Nichts darf ihm zu nahe kommen. Nicht einmal eine harmlose Taube. Und doch lastet ein Wolkenbruch über ihr scheinbar gemeistertes Leben. Retten wir unsere Kinder, indem wir alles von ihnen fernzuhalten suchen? Oder schicken wir sie erst recht haltlos in die Welt? Wer hat sie beschützt, als sie ein Kind war? An ihre Eltern hat Marilena eine blasse Erinnerung. Oder vielmehr ein Gefühl von Helligkeit und Wärme. Sie starben, als Marilena und Cecilie noch keine vier Jahre alt waren. Ein Unfall. Onkel Wendelin begann dermaßen zu frieren, wenn er vom Unfall seines Bruders und dessen Frau erzählen sollte, dass Marilena zu fragen aufhörte. „Sie prallten mit dem Motorrad gegen eine Mauer. Im Tunnel. Das war’s, mehr gibt’s nicht zu sagen”, zischte Regine. Regine war kalt wie ein Fisch. Die Geborgenheit, die Marilena brauchte, um zu wachsen, um nicht zurück in den Bauch ihrer gestorbenen Mutter zu wollen, hatte ihr Onkel Wendelin gegeben. Dann Bjarki. Später die Jahre des Suchens. Gefrorene Zeit.
Eine Romafrau lachte und lachte, als Marilena mit ihrer Nikon und einem Teleobjektiv auf sie zuschritt. Das Lachen hörte sich schrill, abartig an. Sie war fuchsäugig und ihr Leib ein Berg. Marilena knipste, sie hatte vorher um Erlaubnis gebeten. Der Ehemann der Fuchsfrau fasste Marilena grob am Unterarm, gleichzeitig redete er aufgeregt gestikulierend auf den Dolmetscher ein, den Cecilie mitgeschleppt hatte. Einst sei sie eine andere gewesen, beteuerte der Mann, sie habe mit leuchtend blauen Perlen, die ihr bis zum Bauchnabel reichten, getanzt. Heimlich in den Nächten unter einer Mondsichel und bis zum Morgengrauen. Aber dann sei die Perlenkette aus unerfindlichen Gründen gerissen. Es kam ein Unglück nach dem anderen. Der Mann winselte. Sieben Kinder seien ihnen weggestorben. Jedes Mal, wenn eines gestorben war, hätte die Frau auf eben diese Weise gelacht. Er war außer sich, wisse nicht, was los sei. Die Frau sei fünfundfünfzig und nicht schwanger, zumindest nicht von ihm. Und ihre Töchter und Söhne seien allesamt tot.
Marilena wankte, sie musste sich hinsetzen, war kurz vor dem Erbrechen. Entsetzt starrte sie den Koloss von einer Frau an, die sich gebärdete und lachte, als habe sie den Verstand verloren. Es gab ein kollektives Bewusstsein, davon war Marilena überzeugt. Die Romafrau hatte gefühlt, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Plötzlich wusste sie, wer die zermarterten Vögel um ihre Schlafstätte gestreut hatte.
Marilena fror in den darauf folgenden Nächten im Schlafsack, unter den Rosshaardecken. Die Decken hatte man den Schwestern gegeben, weil sie partout nicht im Wohnwagen oder in den Baracken schlafen wollten, sondern zwischen Grashalmen unter freiem Himmel. Was sich diese hellhäutigen Frauen dachten? Mit ihrer Steppenromantik? Reine Dummheit. Die sollten das Leben hier kennenlernen, wie es wirklich war. In rauen Wintern, wenn man das Eis aufschlagen, die Blöcke in Kesseln aufschmelzen musste, um wenigstens einmal am Tag die verschissenen Hintern der Kleinkinder zu waschen.
Marilena ortete. Die Schatten toter und ungeborener Kinder, wie sie über das Grasland huschten. Das unaufhörliche Knattern der Zeltwände und der Planen würde sie wahnsinnig machen, das ahnte sie. Sie musste aufbrechen, fort von diesem Ort. Ein unbeschriebener Fleck auf der Karte, irgendwo in Eurasien. Marilena zog die Windjacke über, band sich die Wanderschuhe. Am Himmel zogen Wolken.
Die Baracken lagen schweigend in der Ebene. Marilena lief über Steine und Furchen. Hinter dem Holzschuppen hörte sie das Scharren eines Esels, das Aufschlagen seiner Hufe. Aus Tamaras Hütte die Stimme eines weinenden Säuglings.
Der Schwester hatte sie eine Zeile auf ein Blatt Papier geschrieben und ins Zelt geschoben.
Muss nach Hause. Ich liebe dich. Marilena.
Mit etlichen 35 mm Filmen, sorgfältig im Gepäck verstaut, beschloss sie, ihre Schwester der kasachischen Steppe zu überlassen. Sie konnte ihr nichts erklären. Und Cecilie kam gut allein zurecht, überall auf der Welt.
Marilena verließ das Lager. Vor sich sah sie Brachland, bedeckten Himmel und einen endlosen Raum, in den sie eintauchte. Von ihren Schritten und Atemzügen abgesehen war das Land ohne einen Laut. Mit einem Gefühl von Verlorenheit und Taubheit eilte sie über Feldwege, fünfzig, siebzig oder hundert Kilometer nördlich musste eine Hauptstraße sein, dort würde sie bis nach Almaty fahren, auf einem Eselkarren, per Anhalter, im Sammeltaxi oder Bus.
Endlich stand sie an einer Landstraße, streckte den Arm als Zeichen, es solle sie jemand mitnehmen. Ein Lastwagen hielt an, der Mann sprach nur russisch, Marilena verstand kein Wort. Trotzdem lachten sie auf der Fahrt, Marilena, weil sie so erschöpft war und sie sich die blauen Flecken vorstellte, die in den nächsten Tagen ihren Körper übersäen würden, weil sie von einem Schlagloch ins andere rumpelten. Warum der Lastwagenfahrer lachte, verstand Marilena nicht. Vermutlich tat der billige Fusel, den er sich zwischendurch in die Kehle schüttete, seine Wirkung. Mit der einen hielt er das Lenkrad, mit der anderen die Flasche, ab und zu reichte er sie Marilena, höflichkeitshalber nahm sie mehrere Schlucke. Warum auch nicht? Es würde ihr Mut machen. Der Russe steckte die Flasche zwischen die Schenkel, bei jedem Schlagloch schwappte Schnaps über seine Arbeiterhose. Der Mann palaverte, sie nickte und dann gackerten sie wieder.
Irgendwann bei Dunkelheit kam sie in der Hauptstadt an. Sechsunddreißig Stunden Fahrt und die Nacht war ungewöhnlich mild in der Fremde.
Später saß sie in einem Flugzeug und haderte mit sich. Keinen Schritt weiter, ohne zu wissen warum hatte sie sich einmal zum Vorsatz gemacht. Weil sie den Grund ihrer Rückkehr vergessen hatte, wäre sie gern stehen geblieben. Mitten im Flug.
Marilena hockt im Studio. Während sie eine Zigarette anzündet und tief inhaliert, wird ihr klar, dass sie einen Traum nach dem anderen an den Nagel gehängt hat.
Es kam anders. Cecilie verliebte sich ausnahmsweise nicht. Die Tage und Abende in der Steppe blieben unvergesslich. Die Weite des Graslandes und die unsicheren Winde. Die Härte der Lebensbedingungen eingekerbt in den Gesichtern. All das gelang Marilena in ihren Fotografien festzuhalten.
Marilenas Blick durchs Objektiv wurde nüchterner. Es gibt kein Glück auf Erden, doch Ruhe gibt es und Freiheit, heißt es in einem Gedicht von Puschkin.
Marilena fand etwas in den Augen der Romafrauen. Lange vermochte sie nicht zu entschlüsseln, was dieses Etwas war. Später begriff sie, die schwarzen Augen erzählten von Trauer und Wildheit. Eine Trauer, die Marilena trieb. Eine Wildheit, der sie in ihren Träumen nachspürte.
Marilena sitzt im Studio vor dem Laptop. Sie klickt auf Kasachstan. 2001. In den Weiten der Steppen. Digital archiviertes Fotomaterial. Das Ordnen nach Ländern, Jahreszahlen, Titeln und Stichworten hatte ihr Onkel Wendelin beigebracht. „Ordnung ist das halbe Leben”, sagte er. Was die andere Hälfte sein könnte, behielt er für sich.
Marilena gab den Fotografien Kontraste, Schärfe, veränderte Belichtungen, Farbtöne, Sättigung, verwandelte in Sepia oder Schwarzweiß.
Die besten Schnappschüsse versetzte Marilena mit einem Stern und legte vergrößerte Abzüge in einer Mappe ab. Sie sucht im Rollschrank danach, fächert die Abzüge vor sich über den Holzdielen auf.
Verflossene Geschichten aus dem Romalager.
Cikni, der Junge mit den Segelohren, der Tauben züchtete, ihnen geheime Sätze und Zauberformeln einflüsterte und sie in den Himmel aufflattern ließ. Seine Baskenmütze saß schief auf dem Kopf und er achtete darauf, dass sie ihm nicht davonflog, seine Segelohren halfen dabei. Denn eine abgefallene Mütze hätte den Absturz einer Taube und das ein Unglück bedeutet. Romas waren abergläubisch.
Marilena fühlt den Wind, riecht die erdige Kühle beim Betrachten der Fotografien.
Der Papan mit einer Gorillamaske über den Schädel gestülpt und diesen lächerlichen Gummistiefeln an den Füßen. Nie richtete er das Wort an Marilena, nie nahm er die Maske ab. Die dauernde Anwesenheit des Papans, des Dümmlings, wie ihn alle nannten, war ihr von Tag zu Tag unheimlicher geworden. Erst später, zuhause, als die Ablichtungen wieder und wieder durch ihre Hände glitten, begann sie den eigenartigen Kauz zu mögen, vermutete Verletztheit hinter der Maske.
Männer mit Wasserpfeifen auf Schaumgummi oder Brettern auf dem Feld hockend, in ihrer Mitte Gefäße voller Beschbarmak. Frauen trugen Wasserkanister vom Hügel herunter, die schwermütige Musik eines Akkordeonspielers in ihren Haaren und Tüchern.
Was hatte sie mit den Romas gemein?
Schnee. Schmutz. Falsche Brautkleider. Und ein nacktes Kind zwischen Erdklumpen.
Wären da nicht die toten Vögel gewesen, hätte sich Marilena wohl gefühlt. Täglich fand sie ein Dutzend um ihr Zelt verstreut, auf der Erde oder unter verfaultem Gras. Schwalben, Steppenkiebitze und solche, die sie nicht kannte. Manche waren geköpft, andere zermalmt oder zerquetscht. Die Schwestern fanden nicht heraus, wer ihnen die Vögel vor das Zelt gelegt hatte. Cecilie vermutete den Papan mit der Tiermaske als möglichen Täter.
An jedem neuen Morgen sammelten die Kinder die blutigen Federn und Knochen rund um Marilenas Zelt ein. Sie steckten sie in die Taschen ihrer Schürzen und Hosen. Mit angeschwärzten Zähnen und Geheul machten sie sich davon, hinaus auf den Friedhof, wo sie auf den Gräbern ihrer Ahnen spielten.
Unter keinen Umständen würde sie Leo in dieser Verwahrlosung aufwachsen lassen. Nichts darf ihm zu nahe kommen. Nicht einmal eine harmlose Taube. Und doch lastet ein Wolkenbruch über ihr scheinbar gemeistertes Leben. Retten wir unsere Kinder, indem wir alles von ihnen fernzuhalten suchen? Oder schicken wir sie erst recht haltlos in die Welt? Wer hat sie beschützt, als sie ein Kind war? An ihre Eltern hat Marilena eine blasse Erinnerung. Oder vielmehr ein Gefühl von Helligkeit und Wärme. Sie starben, als Marilena und Cecilie noch keine vier Jahre alt waren. Ein Unfall. Onkel Wendelin begann dermaßen zu frieren, wenn er vom Unfall seines Bruders und dessen Frau erzählen sollte, dass Marilena zu fragen aufhörte. „Sie prallten mit dem Motorrad gegen eine Mauer. Im Tunnel. Das war’s, mehr gibt’s nicht zu sagen”, zischte Regine. Regine war kalt wie ein Fisch. Die Geborgenheit, die Marilena brauchte, um zu wachsen, um nicht zurück in den Bauch ihrer gestorbenen Mutter zu wollen, hatte ihr Onkel Wendelin gegeben. Dann Bjarki. Später die Jahre des Suchens. Gefrorene Zeit.
Eine Romafrau lachte und lachte, als Marilena mit ihrer Nikon und einem Teleobjektiv auf sie zuschritt. Das Lachen hörte sich schrill, abartig an. Sie war fuchsäugig und ihr Leib ein Berg. Marilena knipste, sie hatte vorher um Erlaubnis gebeten. Der Ehemann der Fuchsfrau fasste Marilena grob am Unterarm, gleichzeitig redete er aufgeregt gestikulierend auf den Dolmetscher ein, den Cecilie mitgeschleppt hatte. Einst sei sie eine andere gewesen, beteuerte der Mann, sie habe mit leuchtend blauen Perlen, die ihr bis zum Bauchnabel reichten, getanzt. Heimlich in den Nächten unter einer Mondsichel und bis zum Morgengrauen. Aber dann sei die Perlenkette aus unerfindlichen Gründen gerissen. Es kam ein Unglück nach dem anderen. Der Mann winselte. Sieben Kinder seien ihnen weggestorben. Jedes Mal, wenn eines gestorben war, hätte die Frau auf eben diese Weise gelacht. Er war außer sich, wisse nicht, was los sei. Die Frau sei fünfundfünfzig und nicht schwanger, zumindest nicht von ihm. Und ihre Töchter und Söhne seien allesamt tot.
Marilena wankte, sie musste sich hinsetzen, war kurz vor dem Erbrechen. Entsetzt starrte sie den Koloss von einer Frau an, die sich gebärdete und lachte, als habe sie den Verstand verloren. Es gab ein kollektives Bewusstsein, davon war Marilena überzeugt. Die Romafrau hatte gefühlt, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Plötzlich wusste sie, wer die zermarterten Vögel um ihre Schlafstätte gestreut hatte.
Marilena fror in den darauf folgenden Nächten im Schlafsack, unter den Rosshaardecken. Die Decken hatte man den Schwestern gegeben, weil sie partout nicht im Wohnwagen oder in den Baracken schlafen wollten, sondern zwischen Grashalmen unter freiem Himmel. Was sich diese hellhäutigen Frauen dachten? Mit ihrer Steppenromantik? Reine Dummheit. Die sollten das Leben hier kennenlernen, wie es wirklich war. In rauen Wintern, wenn man das Eis aufschlagen, die Blöcke in Kesseln aufschmelzen musste, um wenigstens einmal am Tag die verschissenen Hintern der Kleinkinder zu waschen.
Marilena ortete. Die Schatten toter und ungeborener Kinder, wie sie über das Grasland huschten. Das unaufhörliche Knattern der Zeltwände und der Planen würde sie wahnsinnig machen, das ahnte sie. Sie musste aufbrechen, fort von diesem Ort. Ein unbeschriebener Fleck auf der Karte, irgendwo in Eurasien. Marilena zog die Windjacke über, band sich die Wanderschuhe. Am Himmel zogen Wolken.
Die Baracken lagen schweigend in der Ebene. Marilena lief über Steine und Furchen. Hinter dem Holzschuppen hörte sie das Scharren eines Esels, das Aufschlagen seiner Hufe. Aus Tamaras Hütte die Stimme eines weinenden Säuglings.
Der Schwester hatte sie eine Zeile auf ein Blatt Papier geschrieben und ins Zelt geschoben.
Muss nach Hause. Ich liebe dich. Marilena.
Mit etlichen 35 mm Filmen, sorgfältig im Gepäck verstaut, beschloss sie, ihre Schwester der kasachischen Steppe zu überlassen. Sie konnte ihr nichts erklären. Und Cecilie kam gut allein zurecht, überall auf der Welt.
Marilena verließ das Lager. Vor sich sah sie Brachland, bedeckten Himmel und einen endlosen Raum, in den sie eintauchte. Von ihren Schritten und Atemzügen abgesehen war das Land ohne einen Laut. Mit einem Gefühl von Verlorenheit und Taubheit eilte sie über Feldwege, fünfzig, siebzig oder hundert Kilometer nördlich musste eine Hauptstraße sein, dort würde sie bis nach Almaty fahren, auf einem Eselkarren, per Anhalter, im Sammeltaxi oder Bus.
Endlich stand sie an einer Landstraße, streckte den Arm als Zeichen, es solle sie jemand mitnehmen. Ein Lastwagen hielt an, der Mann sprach nur russisch, Marilena verstand kein Wort. Trotzdem lachten sie auf der Fahrt, Marilena, weil sie so erschöpft war und sie sich die blauen Flecken vorstellte, die in den nächsten Tagen ihren Körper übersäen würden, weil sie von einem Schlagloch ins andere rumpelten. Warum der Lastwagenfahrer lachte, verstand Marilena nicht. Vermutlich tat der billige Fusel, den er sich zwischendurch in die Kehle schüttete, seine Wirkung. Mit der einen hielt er das Lenkrad, mit der anderen die Flasche, ab und zu reichte er sie Marilena, höflichkeitshalber nahm sie mehrere Schlucke. Warum auch nicht? Es würde ihr Mut machen. Der Russe steckte die Flasche zwischen die Schenkel, bei jedem Schlagloch schwappte Schnaps über seine Arbeiterhose. Der Mann palaverte, sie nickte und dann gackerten sie wieder.
Irgendwann bei Dunkelheit kam sie in der Hauptstadt an. Sechsunddreißig Stunden Fahrt und die Nacht war ungewöhnlich mild in der Fremde.
Später saß sie in einem Flugzeug und haderte mit sich. Keinen Schritt weiter, ohne zu wissen warum hatte sie sich einmal zum Vorsatz gemacht. Weil sie den Grund ihrer Rückkehr vergessen hatte, wäre sie gern stehen geblieben. Mitten im Flug.
Marilena hockt im Studio. Während sie eine Zigarette anzündet und tief inhaliert, wird ihr klar, dass sie einen Traum nach dem anderen an den Nagel gehängt hat.