Auszug aus "Die Blechbüchse"
Er war sich nicht sicher, ob die Idee gut war, aber er wollte es hinter sich bringen. Er bestellte einen Tisch, für drei Personen, in einem eleganten Restaurant, mit Flussblick von der Terrasse und stellte die beiden Frauen einander vor. Ein Tuk-Tuk-Fahrer kutschierte ihn und Marie für 20 Baht direkt vor die Eingangshalle. Nuu wartete bereits dort mit leuchtendem Haar, das mit Spangen hochgesteckt war. Ein Glitzerkleid umspannte den feinen Körper. Ihr Mund prangte auf der weißgepuderten Haut, eine Knospe kurz vor dem Aufspringen. Thomas blickte nervös zu Marie, die in ihrer Urlaubshose, einem alten T-Shirt und in Birkenstocksandalen neben ihm stand. Er sprach langsam und deutlich, als ob Marie die Ausländerin gewesen wäre, die seine Sprache nicht verstand, Darf ich vorstellen, Nuu, eine Freundin. Maries flächiges Gesicht blieb gegossen.
Einige Augenblicke geschah nichts.
Thomas fühlte sich ähnlich einer Qualle, die an den Strand gespült wurde, seine Kraft versiegte, all das Wasser verdunstete. Erschöpft bewegte er den Mund zum Sprechen, Marie, meine Frau. Nuu lächelte hinauf in Maries Gesicht, so wie sie immer lächelte und ein bisschen farbiger, sie grüßte mit aneinandergelegten Handballen und neigte untertänig ihr Haupt. Die eineinhalb Kopf größere Marie war bis hierhin bewegungslos geblieben, nun aber faltete sie ebenfalls ihre Hände und grüßte den wai für Gleichwertige. Damit hatte sie ahnungslos der überraschten Nuu einen gleichrangigen Platz neben Thomas eingeräumt.
Nuu zeigte sich locker, witzig, eloquent, sie konversierte in fließendem Englisch, Thomas staunte, wie sie selbst Marie, die sich vorgenommen hatte, misstrauisch zu bleiben, aus der Reserve lockte und sie zu verhaltenem Schmunzeln, ja sogar zum Erzählen brachte. Nuu empfahl Spezialitäten, Marie die sauersüße Fischsuppe, Klebreis mit Papayasalat, Thomas den Haifisch garniert mit Ananasspitzen und Cashew-Nüssen, das Singhabier bestellte sie ungefragt, sie wusste Bescheid über Thomas' Trinkgewohnheiten. Während sie an einem Hühnerbeinchen nagte, saß sie brettgerade auf dem Hocker. Marie fragte sich, wie Nuu dieses Kunststück an perfekter Körperhaltung zustande brachte, zumal ihr zierliches Gesäß das Holz nicht zu berühren schien. Die Beine schlug sie graziös übereinander. Eine Porzellanpuppe, die informierte: über Nationalparks, Badestrände, die junge arbeitende Frauengeneration in Thailand ernähre Kinder, Eltern, selbst Großeltern, die Scheidungsrate sei ungeheuerlich, Und die Prostitution?, wollte Marie wissen, Ebenfalls, entgegnete Nuu, diesmal ohne zu lächeln. Es wurde still und die Stille nahm den ganzen Raum ein.
Thomas verscheuchte sie, Lehrerinnen, er meinte Marie, müssten ununterbrochen Fragen stellen, als wären wir ihre Schüler und befänden uns im Prüfungszustand. Nuu lächelte wieder, das sei nicht weiter schlimm, auch sie habe zwei Fragen an Marie.
Und plötzlich kam es stählern und in einem Guss. Die erste Frage kriegst du sofort! Die andere schicke ich dir, wenn der Mondfressergeist kommt und euren Mond verschlingt. Wieviel verdienst du?
Marie war verblüfft, hatte das Gespräch doch bisher in allgemeinen Bahnen, mit beidseitiger unterschwelliger Vorsicht und erst allmählicher Annäherung stattgefunden. Sie antwortete wie aus der Pistole geschossen und fragte sich gleichzeitig, was dieser Mondfressergeist sollte, bis sie begriff, dass Nuu die Mondfinsternis gemeint hatte.
Thomas wusste, Maries Antwort entsprach einem blanken Schlag ins Gesicht der asiatischen Freundin, denn was Marie monatlich verdiente, erhielt Nuu nicht in einem Jahr, auch wenn sie Spätnachtschichten einlegte.
Er hatte Angst, die zweite Frage könnte trotz des angekündigten Aufschubes augenblicklich fallen. Thomas fürchtete um Nuu. Da er ihr eine weitere Peinlichkeit ersparen, da er sie schützen wollte, lenkte er ab und sprach vom Klima. Außerdem geriet Marie langsam in ihr Element, sie war eine Verfechterin offener Diskussionen, ihre Zunge war schnell und erbarmungslos ehrlich.
Marie fing an nachzuhaken, wenn Nuu nicht weiter ausführte. Er kannte diese Strategie, wusste, dass solche Gespräche für Beteiligte hoffnungslos blieben. Das Aufdecken von Ungereimtheiten, das Benennen von Nichtauszusprechendem (nach Marie: Auskurieren von Hirnverrenkungen) stachelten einander an, schaukelten sich hoch und Marie hatte das Ganze schon oftmals ins Grenzenlose, in den Exzess getrieben. Bis man alles, alles ausgespukt hatte und in sich nur noch den hohlen Herzschlag hörte.
Vorsichtig fasste Thomas Marie an den Ellbögen, Wir könnten unsere Reise in den Norden planen. Du wolltest doch nach Chiang Mai?
Chiang Mai ist Thailands Herz und sein Geheimnis, Nuu redete zu Thomas und schaute ihn unverwandt an. Thomas erwiderte ihren Blick und stürzte. Er hörte noch Marie Nuu fragen, Kannst du uns ein Hotel reservieren?, aber die Worte vermochten ihn nicht zurückzuholen.
Sein Körper flog durch Nebel und Nacht und Seide. Seide, die ihn streichelte. Er fiel weiter und weiter. Haltlos. Gewichtlos. Irgendwann blies ein Dunkelwind von unten Blätter und Sandkörner in die Höhe. Sie streiften seine Beine, schürften seine Haut, sie rüttelten an den Gelenken, die Knochen bröselten stellenweise. Seine Zersetzung begann am lebenden Organismus. Genauso unberechenbar wie der barbarische Wind gekommen war, ließ er von ihm ab.
Zurück blieben zwei wunderbare Sandrosen in einer gelben Wüste.
Maries Seele weinte. Thomas nahm sie nicht mehr wahr. Er hatte bloß Augen für die Fremde. Ihr war kalt. Wenn sie wenigstens ihre Handschuhe eingepackt hätte. An den Fingern fror sie immer zuerst, von den Kuppen her färbten sie sich bischofslila, in der Endkaltphase eisblau.
Nuu durfte ihren Mann nicht mit diesen Augen anschauen, nicht mit solchen Versprechungen.
Eifersucht brannte als trockenes Stück Holz, und eines der Wut stand kurz vor dem Auflodern. Wenn die beiden sich länger auf diese Weise anschauten ... Aus dem glutheißen Teil sprang eine Zunge, Marie fuhr aus der Haut, sie schrie mit ihrer gesamten stimmlichen Wucht in Nuus plötzlich schrumpfende Gegenwart und während sie sich vom Stuhl riss, schwang ihre Hand unkoordiniert mit in die Höhe. Nichts Besseres fiel ihr ein als mit ausgestrecktem Finger auf ein Gemälde zu zeigen, das oberhalb von Nuus Kopf an einer Holzwand prangte: WIE LÄSST SICH DIE UNANTASTBARKEIT DES KÖNIGS, DER NEUNMALBLÖDE HYMNEN-SINGSANG EINES GANZEN VOLKES MIT MODERNITÄT UND AUFGESCHLOSSENHEIT VERBINDEN?
Marie hielt sich mit ihrem sozialpolitischen Engagement nie zurück, ihr Einsatz lag perfekt durchformuliert auf der Zunge und wartete auf den geeigneten Zeitpunkt. Diesmal platzte sie verfrüht und völlig unpassend heraus. Diesmal ging es ihr nicht um eine Mission für die Menschheit, sondern sie hatte höchst persönliche, ökologisch gesehen geradezu niederträchtige Beweggründe. Marie wollte dieses Nachtschattengewächs umbringen. Ihr entging nicht, dass Thomas blass wurde, blasser denn je, und ihr war auch klar, wenn sie jetzt weiter ausholte, sich über die Unzulänglichkeiten der Monarchie ausließ, riskierte sie Kopf und Kragen und endete in einem dieser hundsmiserablen Gefängnisse Thailands. MENSCHENRECHTSVERSTÖSSE, Marie brüllte aus Verzweiflung.
Nuu saß stumm und steif, als wäre sie eine Salzstatue, sie rührte sich keinen Millimeter.
Marie wusste, dass ihr Benehmen lächerlich und zudem gefährlich war. Sie verlor die Beherrschung, weil sie sich nicht zu helfen wusste und es noch nie mit einer Liebesdiebin von Angesicht zu Angesicht zu tun gehabt hatte. IHR EWIGLÄCHLER! WISST IHR, WARUM THAILAND EINE DER HÖCHSTEN MORDRATEN WELTWEIT HAT? NEIN? PSYCHOZWÄNGE VERURSACHEN SOLCHE KURZSCHLUSSREAKTIONEN! Marie schmiss ihr Rüsselhaar in den Nacken, sie fixierte Nuu und trompetete dabei wie ein bedrohtes Elefantenweibchen.
Ein Fischmesser fiel zu Boden.
Nuu starrte reglos in das schwindende Kerzenwachs im Glas. Als der Docht erloschen war, tauchte sie ohne hinunterzuschauen nach dem gefallenen Messer, sie krallte ihre Finger um den Schaft, ihre Pupillen verengten sich und der Mund wurde böse und schmal. Sie sagte leise, Du bist so ernst, weil in deinem Land nie die Sonne scheint.
...
Thomas beging noch einen Fehler. Zuerst hatte er die beiden miteinander bekannt gemacht. Danach schlug er vor, die Fahrt gemeinsam anzutreten. Zu dritt Orte der Sonne bereisen! Nuu strahlte und Marie sagte nichts. Es hatte ihr die Sprache verschlagen.