Birgit Unterholzner
Auszug aus "Flora Beriot"


„Großmutter war eine gepflegte Frau, mit einwandfreier Frisur, makellos gefeilten Nägeln. Großvater Anton wurde nachgesagt, er sei der schönste Mann im Umkreis von zweihundert Kilometern. Und es gab Emma. Die Geheimnisvolle aus Polen.
Die Polin logierte im Bellevue, als Dauergast und Freundin der Beriots. Ihr Gatte, Möbeldesigner, auch er gern gesehen und Stammgast, war viel unterwegs. Dienstlich. Ja, ja und Emma hatte eben feine kurze Röcke. Röcke, die sich um ihre Hüften schmiegten, Hüften, die bei jedem Schritt aufregend hin und hertanzten. Frau Emma nahm Mahlzeiten nicht wie die übrigen Gäste im Speisesaal ein, nein, sie aß mit der Familie in der verglasten Veranda. Durch ihre permanente Anwesenheit gehörte sie irgendwie zu uns. Einmal entwischte mir bei Tisch eine Dessertgabel, mein Besteck machte sich oft davon, lauter silberne Fischchen, ich glitt lautlos hinterher, ruderte mit der Schwanzflosse und bemerkte, wie Großvater und Emma unter der Tafel Händchen hielten. In den darauffolgenden Wochen tauchten Silberfische in Schwärmen zu Boden, meine gestrenge Großmutter legte die Stirn in Falten, aber ich ließ mich nicht einschüchtern, schnappte nach Luft, sprang kopfüber und entdeckte Großvaters Hand auf Emmas Knien, auf Seidenstrümpfen, mit dem Saum ihres Rockes spielend. Empört setzte ich Gabriella in Kenntnis, Anton war Großmutters Mann, so hatte ich das verstanden, Gabriella legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, machte psst, du darfst es nicht in die Welt posaunen, Großmutter Wally will nichts darüber hören. Später begriff ich, dem Großvater war gelungen, wovon die meisten Männer träumen: Gattin und Geliebte freundschaftlich unter einem Zelt zu vereinen."

Inzwischen sitzen wir auf Klappstühlen vor dem Promenadencafé, der Schriftsteller gießt sich Schweppes ein, hält sein Glas ins Licht. Voller Kratzer. Sobald es auf dem wackeligen Tisch steht, fragt er ernst: „Wovon träumen Sie, Flora?“
„Nun, Gefährten und Geliebten ...", während ich spreche, verändert sich der Mund von Vincent Merz zu einem Falter, der die Flügel öffnet, ich entdecke Risse, Hautfetzen, denke, es ist ein Vergehen, diesen Mund zu vernachlässigen.

Am Erzählfaden halte ich mich fest, hangle mich weiter.

„Mit Großvater Anton nahm es ein trauriges Ende. Teile des Gehirns wurden nicht mehr ausreichend mit Atemluft und Nährstoffen versorgt. Er litt unter Gedächtnisstörungen. Die erste Zeit sporadisch, dann häufiger, schließlich war es der Normalzustand. Als Kind fand ich es lustig, wenn er seine Winterstiefel in die Spüle stellte, das Hemd verkehrt rum anzog, mich statt Flora Blauburgunder nannte. Ich verstand nicht und kicherte in die vorgehaltene Hand. Er fühlte, mit ihm geschahen Dinge, die er nicht im Griff hatte, manchmal ärgerte er sich, wenn wir ihn nicht ernst nahmen, oder er geriet ohne ersichtlichen Grund in Rage. Manchmal nahm er es von der leichten Seite, das Land ist von Narren bevölkert, pflegte er zu philosophieren, also darf auch ich sie zum Narren halten. Später zog er sich mehr und mehr zurück, aus unserer Welt in die seine. Er verbrachte den Lebensabend im Bellevue, aber sein Verstand baumelte irgendwo oben, Lichtjahre entfernt, als wäre er seiner überdrüssig geworden, als hätte er die unzuverlässige Graumasse aus eigenen Stücken ins All gepustet. …
Zuweilen hatte er lichte Momente, das waren die schlimmen. Mit einer unerhörten Portion an Sarkasmus inszenierte er seinen Abgang. Einmal zwang er uns Beerdigung zu spielen. Er verlangte einen Sarg. Massivholz. Großmutter ging nach wochenlangem Insistieren seinerseits und unseren vorsichtigen Bitten zum Tischler. Einen rustikalen Totenschrein, Eiche für Anton. Der Tischler legte den Hobel bedächtig auf die Bank, senkte die Stirn und sprach Großmutter sein Beileid aus, endlich hat er es hinter sich. Großmutter schrie, nichts hat er, er ist noch mittendrin, und wir mit ihm, machen Sie, verflixt noch Mal die Kiste mit Fensteröffnung, Anton sagt, er wolle rausspechteln, wenn wir um ihn trauern. Dem Tischler hing einen Augenblick seine leberbraune Zunge heraus, er wusste zwar, dass der Beriot vom Bellevue nicht mehr ganz dicht war, aber die Alte schien ihm keineswegs nachzustehen.
Schließlich bekam Anton den Sarg, er strahlte von einem Ohrläppchen zum andern, Emma sprang in den Gesellschaftsraum, kam mit orientalischen Kissen gelaufen, bettete sie ans obere Ende, er stieg ungelenk in den Hohlraum, dann begann er zu kommandieren, Kappe drüber!, und meinte den Deckel, als wir diesen draufgelegt hatten, trommelte er gegen das Glas, winkte munter heraus, plötzlich schoss der Sargdeckel senkrecht in die Höhe, dann sein Kopf, hochheben!, lautete der Befehl. Iwan und Claudius, die das Spektakel aus einiger Entfernung Pfeife schmauchend beobachtet hatten, mussten herbei, hochheben! Vorne der bärenstarke Iwan, hinten der schmächtige Claudius, sie setzten den Schrein wankend auf ihre Schultern. Gabriella, Emma, Großmutter und mich wies Anton an in Zweierreihen hinter der Totenkiste zu schreiten. Großmutter war heilfroh, dass das Hotel wegen Urlaub geschlossen war. Sobald sich sein Beerdigungszug in Bewegung setzte, legte er das Silberhaar auf bestickte Polster, summte, bei deiner Ankunft mögen Engel dich erwarten, dich geleiten in das Reich der Ewigkeit, mit Fingerknöcheln schlug er den Takt. Großvater amüsierte sich sehr über unsere Befangenheit, wir schauten bedrückt auf die Fußspitzen. Großmutter hatte dicke Klumpen Salzwasser in den Augen, irgendwann kollerten sie über ihre Wangen, die faltig geworden waren und aussahen wie mein cremefarbener Plisseerock, immer brachen noch welche und noch welche hervor. Es war das einzige Mal, dass ich sie hatte weinen sehen, in all den Jahren.
Claudius und Iwan waren unschlüssig, wohin mit dem Sarg. Über die Brücke Richtung Innenstadt wollte Großmutter Wally nicht, sie fand, ein Schwachsinniger in der Familie reiche, man musste den Leuten nicht Zugaben, Extragesprächsstoff liefern. Also bewegten wir uns langsam im Schutz der Schirmplatanen ortsauswärts. Endlich erreichten wir die Feuchtwiesen vor der Stadt, als der Deckel erneut aufschoss und Anton spitzbübisch herauslugte, um-umkehren, wir k-kehren um zum Leichen-schmaus! Mir fiel eine Steinlawine vom Herzen, ich sprang über Geschiebe, Geröll, Großmutter ordnete an, ich solle eilen und Elsa, der neuen Köchin, Bescheid geben, wir kämen bald zum Essen (zu-um Leichenschmaus, protestierte Anton), sie könne Nudelsuppe mit Würstchen in der Veranda servieren.
Im Nachhinein schmunzelten wir über den Vorfall. Natürlich war es nicht nur vergnüglich mit Anton, im Laufe der Jahre wurde es trister, jemand musste ihn rund um die Uhr betreuen. Wir fuhren nicht mehr häufig ins Bellevue. Für Gabriella gab es zu viele schmerzliche Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten. Wohl hätte sie Großvater gern gesehen, doch er erkannte sie nicht.



Großmutter Wally hatte zementgraue Augen bekommen, einen kantigen Mund, sie schaltete und waltete im Hotel, alles andere ging sie nichts mehr an. Gatten und liebsten Sohn verloren zu haben, darüber war sie trotz ihres Panzers nicht hinweg gekommen. Großmutter verzieh Gabriella nie, dass Jakob an ihrer Seite zu atmen aufgehört hatte. Im Kurstädtchen wurde gemunkelt, Ausschweifungen hätten Jakob dahingerafft. Zerfahrenheit. Der Fleck in seiner Seele. Vielleicht ein anstößiger Akt. Im Nachtregen. …“